September 20, 1990
Final Report by Ambassador Bauer, '4 ½ Years in Bonn; Attempt on Prospects'
4 ½ Jahre Bonn; Versuch eines Ausblicks
Die essentiellen Grundzüge der österreichischen und deutschen Ostpolitik, insbesonders im Rahmen der KSZE, sind fast kongruent. Dafür mag man viele Erklärungen finden. Hauptgrund scheint mir zu sein, dass sich sowohl die Partner der großen Koalition in Österreich als auch Regierungsparteien und SPD-Opposition über die elementaren Erfordernisse der außenpolitischen Zielsetzungen einig sind.
So gibt es zwischen Österreich und der BRD immer wieder Auseinandersetzungen „nur“ mit wirtschaftlichem Hintergrund: atomare Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf,[1] Giftmüllschiff Petersberg,[2] Nachtfahrverbot und Schwer-LKW-Transit.[3]
Allen Konfliktthemen ist gemeinsam, dass sich nach raschem Aufbau des Konfliktpotentials über die Printmedien – mit Ausnahme des Schwer-LKW-Transits bis zur Untertunnelung der Alpen – in der Öffentlichkeit die Situation wieder beruhigt und keine Ressentiments zurück bleiben. Die BRD nimmt ihre wirtschaftlichen Interessen beinhart wahr. Die Härte der Auseinandersetzungen nimmt vor bayerischen Landtagswahlen oder österreichischen Wahlgängen zu und schwillt dann rasch wieder ab.
Das vereinte Deutschland wird um die Jahrtausendwende zur ersten europäischen Wirtschaftsmacht, die ihre wirtschaftlichen Interessen ebenso hartnäckig verfolgen wird wie bisher – wenn nicht sogar stärker. In der EG wird fast nichts ohne Deutschland, aber nichts gegen Deutschland gehen. Wie wirtschaftliche in politische Macht umgesetzt wird, darüber steht noch die Beurteilung aus.
Bis dahin ist es aber noch ein langer Weg. Nicht nur die ehemalige DDR ist zu sanieren. Auch die früheren kommunistischen Staaten werden von Deutschland mitzualimentieren sein. Der Umfang all dieser Leistungen, dazu noch die Hilfestellung an die Sowjetunion als Preis der deutschen Einheit, ist ziffernmäßig nicht annähernd abschätzbar. Es wird sich aber um gewaltige Summen handeln.
Zwangsläufig wird sich die deutsche Finanzpolitik an Keynes[4] orientieren müssen: hohe Kreditaufnahmen bei immer wieder aufkommenden inflationären Tendenzen. Selbst Steuererhöhungen, insbesonders Verbrauchersteuern, werden daran nichts ändern. Alle Staaten in und um die EG werden zwangsläufig mitmachen müssen; insbesondere Österreich, das ohnehin über den Hartwährungsverband[5] an die Deutsche Mark angebunden ist.
Es ist sogar möglich, dass der deutsche Motor den Europäern einen Konjunkturweg weist, der sich erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg von der dahinsiechenden Wirtschaftsentwicklung der USA abhebt, ohne gänzlich entkoppelt zu werden. Euro-Dollars und anderes Floating Capital werden vor allem über deutsche Banken den Weg in das ertragreiche Europa finden. Über die politischen Folgen dieser möglichen Entwicklung darf heute schon nachgedacht werden.
Österreich wird sämtliche ökonomischen Chancen und Risiken dieser Entwicklung mitzutragen haben. Persönlich sehe ich mehr Vor- als Nachteile.
Nach der Jahrtausendwende wird Deutschland reicher, wirtschaftlich mächtiger, selbstbewusster und mancher Deutsche arroganter dastehen.
Fazit: Jetzt sollten wir alles daran setzen, sobald als möglich als gleichberechtigtes Mitglied in die EG einzuziehen. Im Windschatten der schwierigen und kostspieligen deutschen Einigung und des Zusammenwachsens Europas unter deutscher finanzieller Federführung sollten wir es in den Gremien der EG so rasch als möglich erlernen, wie sich ein europäischer Kleinstaat gegenüber europäischen Großen mit wechselnden Mehrheiten behaupten kann. Unser Durchhaltevermögen beim Nachtfahrverbot und anderen Beschränkungen des alpenquerenden Schwer-LKW-Verkehrs gegen die mächtigen Deutschen – so wird es bei den kleinen europäischen Staaten gesehen – ist der erste Teil der Nagelprobe.
An Europas Gestaltung im 3. Jahrtausend, die heute beginnt, sollten wir nicht als Zaungast sondern als voll Mitwirkende in den EG teilnehmen können. Österreichs Nationalbewusstsein und europäische Gesinnung schließen einander nicht aus. Im Gegenteil: wenn wir es halbwegs klug anstellen, werden sie zu einer qualifizierten Einheit, zu einem neuen österreichischen Selbstwertgefühl, das sich vom Nachbarn gleicher Zunge ebenso abgrenzt wie es sich mit ihm verbindet.
Der Botschafter
[1] Das seit 1985 in Bau befindliche Wiederaufbereitungslager Wackersdorf rief nicht nur in der Bundesrepublik umfassende Proteste seitens der Anti-Atombewegung hervor, sondern führte auch zu bilateralen Verstimmungen mit seinen Nachbarstaaten. Der Auftritt der österreichischen Umweltministerin Marilies Flemming, die die bereits zuvor eingelangten 453.000 Einwendungen aus Österreich mit ihrem persönlichen Auftreten am 22. Juli 1988 bei einem Verhandlungstermin in Bayern unterstrich, veranlasste die Bundesrepublik die weiteren Verhandlungen mit Österreich über ein Abkommen zur Regelung von Fragen gemeinsamen Interesses im Zusammenhang mit kerntechnischen Anlagen vorübergehend auszusetzen bis die öffentlich verkündete Klagsdrohung seitens Flemming zurückgenommen werde.
[2] Mitte Mai 1988 lief die mit schadstoffbelastetem Erdreich einer österreichischen Firma beladene „MS Petersberg“ vom Ostseehafen Eckernförde unter bundesdeutscher Fahne in Richtung Türkei. Nach der Weigerung der türkischen Behörden die Fracht zu löschen und der rumänischen Hinderung der Weiterfahrt in Richtung Wien, entbrannte ein Streit zwischen der Bundesrepublik und Österreich über Zuständigkeit und Verantwortung für österreichischen Giftmüll auf einem unter bundesdeutscher Fahne fahrendem Schiff.
[3] Die in den 1980er Jahren stetig steigende Belastung durch die alpenquerenden Verkehr, insbesondere den Schwerverkehr, führte 1990 zu einem „Transitkrieg“ zwischen den betroffenen westösterreichischen Bundesländern Tirol, Salzburg und Vorarlberg sowie dem Freistaat Bayern auf der anderen Seite. Auslöser für die Eskalation des Konfliktes war die notwendig gewordene Sperrung der einsturzgefährdeten Kufsteiner Autobahnbrücke Anfang Juli 1990, wodurch sich der Verkehr auf die Inntalroute in Richtung Brenner verlagerte. Italien folgte mit der Sperrung sämtlicher Transitübergänge zu Österreich für den Schwerverkehr. Eine vorläufige Lösung des Transitproblems erfolgte mit Unterzeichnung des Transitvertrages 1992 zwischen Österreich und den EG, siehe BGBl. 823/1992, Abkommen zwischen der Republik Österreich und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft über den Güterverkehr im Transit auf der Schiene und der Straße samt Anhängen I bis X.
[4] Auf John Maynard Keynes geht ein Ansatz in der Volkswirtschaftslehre zurück (der so genannte Keynesianismus) welcher eine interventionistische, auf die Sicherung von Vollbeschäftigung ausgerichtete Wirtschaftspolitik empfiehlt. In Krisenzeiten ist der Staat dazu angehalten, die fehlende private Nachfrage auszugleichen und durch Investitionen die Wirtschaft zu beleben.
[5] Österreich verfolgte seit 1970 eine „Hartwährungspolitik“. Damit wurde die chronische Unterbewertung des Schillings beendet. Fortan orientierte man sich an den Aufwertungsschritten der Deutschen Mark (DM). Selbst im Gefolge der Auswirkungen des ersten Ölschocks 1973 blieb es im keynesianistischen Österreich der Ära Kreisky bei der „Hartwährungspolitik“. 1976 wurde der Schilling in feste Relation zur DM gesetzt. Dies wurde als vorbeugende Maßnahme gegen Abwertungsspekulationen gegen den Schilling argumentiert. Die Politik wurde trotz innerösterreichischer Kontroversen bis zur Einführung der europäischen Währungsunion und des Euro 1999/2002 beibehalten.
4 ½ Years in Bonn; Attempt on Prospects
The essential basics of Austrian and German Ostpolitik, especially within the framework of the CSCE, are almost congruent. One might find many explanations for this. The main reason seems to be that both the partners of the grand coalition in Austria as well as ruling parties and SPD opposition [in Germany] agree on the elementary requirements of foreign policy objectives.
There are repeated clashes between Austria and Germany “merely” with an economic background: nuclear reprocessing plant in Wackersdorf,[1] toxic waste ship Petersberg,[2] night driving ban and heavy truck transit.[3]
Common to all conflict issues is that after the snowballing of potential conflict via print media, the situation among the public calms down again and no resentment remains (except for the heavy truck transit topic and tunneling under the Alps). The FRG pursues its economic interests with a vengeance. The intensity of the conflicts increases prior to Bavarian elections or Austrian ballots and then ebbs rapidly again.
United Germany will around the turn of the millennium become the first European economic power, which will pursue its economic interests as strongheaded as before – if not even more so. In the EC, almost nothing will work without Germany, and nothing will work against Germany. How economic power will be converted into political power is still to be assessed.
Until then, there is still a long way. Not only must the former GDR be refloated. Additionally, the former communist states will have to be co-financed by Germany. The extent of all these benefits, plus assistance to the Soviet Union as the price of German unity is not even approximately numerically calculable. But it will involve huge sums.
Inevitably, German fiscal policy will have to be geared to Keynes:[4] high borrowing with repeatedly emerging inflationary tendencies. Even tax increases, especially consumer taxes, will change nothing. All countries in and around the EC will have to necessarily join; in particular Austria, which is already connected to the German mark via the hard currency association.[5]
It is even possible that the German motor leads the Europeans to a boom, which for the first time after the Second World War rises above the ailing economic development of the United States without being completely decoupled. Euro-dollars and other floating capital will find their way into lucrative Europe mainly via German banks. Today one can already reflect upon the political consequences of this possible development.
Austria will have to carry all the economic risks and rewards of this development. Personally, I see more advantages than disadvantages.
After the turn of the millennium Germany will be richer, more economically powerful, more confident, and some Germans will even be more arrogant.
Conclusion: We now should do everything we can to enter into the EC as an equal member as soon as possible. In the slipstream of the difficult and costly German unification and the growing together of Europe under German financial leadership we should learn as soon as possible, how a small European country can assert itself in the committees of the EC with changing majorities against the big European countries. Our perseverance against the mighty Germans in case of the night driving ban and other restrictions on transalpine heavy truck traffic – that is how it is seen by the small European states – is the first part of the litmus test.
We should not be an onlooker at the designing of Europe in the third millennium, which begins today, but rather participate as a full player in the EC. Austria’s national consciousness and a European sentiment are not mutually exclusive. On the contrary: if we do it reasonably clever, they become a qualified unit, resulting in a new Austrian self-esteem, which differentiates us as much from our neighbors with the same tongue as it connects us with them.
The Ambassador
[1] The Wackersdorf nuclear reprocessing plant, which has been under construction since 1985 brought about not only extensive protests from the anti-nuclear movement in the Federal Republic of Germany, but also led to bilateral resentment with its neighbor states.
[2] In mid-May 1988, the motor ship “Petersberg” loaded with polluted soil from an Austrian company had travelled under the Federal German flag in the direction of Turkey. After the refusal of Turkish authorities to remove the cargo and the Romanians preventing the ship travelling further to Vienna, a dispute erupted between the Federal Republic and Austria about the jurisdiction and responsibility for Austrian toxic waste travelling on a ship under the Federal German flag.
[3] The steadily increasing burden of transalpine traffic in the 1980s, especially of heavy goods vehicles, led in 1990 to a “Transit War” between the affected west-Austrian provinces of Tyrol, Salzburg and Vorarlberg and the Free State of Bavaria on the other side. The escalation of the conflict was triggered by the necessary blocking, in early July 1990, of the Kufsteiner highway bridge that was in danger of collapsing, whereby the traffic shifted to the Inn Valley route towards Brenner. Italy followed by blocking all transit crossings with Austria for heavy goods vehicles. A tentative solution to the transit problem was made with the signing of the Transit Agreement in 1992 between Austria and the EC.
[4] “Keynesianism” is an approach in economics which goes back to John Maynard Keynes, who recommended an interventionist economic policy aimed at securing full employment. In times of crisis the state is encouraged to compensate for the lack of private demand and to revive the economy with investment.
[5] Since 1970 Austria pursued a hard currency policy. The Austrian Schilling became closely tied to the German mark as of 1976 at a fixed exchange rate. This resulted in a de facto informal monetary union with Germany which – despite inner-Austrian controversies about this issue – remained in place until the introduction of the European currency union.
The document discesses the coalition between Austria and newly united Germany. It highlights the similar political views the countries shares and stresses its economic conflicts. The document continues weighing how to best unite Germany economically and its possible effects on the European Union. It ends with a commitment to ensuring Germany enters the European Union as an equal member.
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